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„Wir wollen so eine Regierung nicht“

Über ein Gespräch mit dem Shoah-Überlebenden Uri Themal über die Wahlen in Israel


von Medea Krüger


Kiryat Tivon, Israel im November 2022


Einführung

Das Ergebnis fiel für einige enttäuschend und erschreckend aus. Eigentlich wählen die Israelis einmal innerhalb von vier Jahren. Jetzt mussten sie innerhalb von dreieinhalb Jahren bereits fünf Mal zur Wahlurne. Das sind die Ergebnisse des jüngsten Wahlgangs[1] am 1. November: Der frühere Premierminister Benjamin Netanjahu mit seiner Likud Partei hat mit 23,42 % (32 Mandate) die meisten Stimmen erzielt. Gefolgt von Yesh Atid mit 17,79 % (24 Sitze). Zum ersten Mal hat eine ultrarechte Partei (Bündnis Religiöser Zionisten) den dritten Platzt belegt. Die Partei hat 10,84 % der Stimmen erhalten. Ihr Frontmann Itamar Ben-Gvir wird von vielen Analysten als Nationalist, sogar als Rechtsextremist eingestuft.

Was das für die Zukunft Israels bedeutet und welche politischen Veränderungen bevorstehen, kann niemand voraussehen. Doch einige Ankündigungen des Wahlkampfs lassen bei vielen israelischen Wählerinnen und Wählern auch in Braunschweigs Partnerstadt Kiryat Tivon Befürchtungen aufkommen. Was genau dahinter steckt und um welche möglichen Veränderungen es konkret geht, wollte ich genauer herausfinden. Einige Gerüchte haben mich aufhorchen lassen und mir eine Sorgenfalte bereitet. Deshalb habe ich mich zu einem Gespräch mit Uri Themal verabredet.

[1] Zentrales Wahlkomitee. (2022, 9. November). Ergebnisse der Wahlen zur 25. Knesset. Botschaft des Staates Israel in Berlin. Abgerufen am 7. Dezember 2022, von https://embassies.gov.il/berlin/NewsAndEvents/Pages/Ergebnisse-der-Wahlen-zur-25--Knesset.aspx


Dieser Artikel ist anders als die sonstigen Blogeinträge. Es geht um Politik, um Themen wie die Schwächung der Demokratie in Israel, Siedlungen und Annexion, rules of engagement[2], die Situation von Frauen, Ultraorthodoxen, Konversionstherapien für LGBTQ+ Menschen und die Angst vor der Zukunft. Es lohnt sich also diesen Beitrag zu lesen, auch wenn man sich etwas Zeit dafür nehmen muss.

[2] Gemeint sind hier die Einsatzregeln des israelischen Militärs, welche für Soldat:innen gelten. In ihnen ist festgelegt, wann welche militärische Gewalt zum Einsatz kommen darf. Diese Regeln sind in Fällen von Selbstverteidigung und Notwehr besonders wichtig.



Mein Interviewpartner: Uri Themal

Uri Themal am Tag der Wahl - 01.11.22

Einen 82-jährigen Israeli vorzustellen, der als Kind die Shoah überlebt hat – das ist schwierig. Trotzdem werde ich versuchen, seinen bisherigen Werdegang zu skizzieren. Ich kenne Uri, da er ein aktives Mitglied im Komitee für die Städtepartnerschaft zwischen Braunschweig und Kiryat Tivon ist. Er kümmert sich jedes Jahr um die Freiwilligen, die durch die Stiftung Ökumenisches Lernen nach Tivon kommen und ist auch dieses Jahr Sophies Gastvater. Er nimmt alle Freiwilligen immer gerne mit zu Ausflügen und zeigt ihnen das Land. Uri ist emeritierter Rabbiner und Überlebender der Schoah[3] und wurde während des Zweiten Weltkrieges 1940 in Berlin geboren. Seine Familie überlebte, da sie gefälschte Papiere hatten und sich so vor den Nazis verstecken konnten. Mit seiner Mutter überlebte Uri unter falscher Identität. Nach dem Krieg wanderten sie 1949 nach Israel aus. Dort verbrachte Uri den Großteil seiner Jugend. Wegen der besseren medizinischen Versorgung für seine Mutter zog die Familie 1956 zurück nach Deutschland; Uri studierte in Berlin. Er wurde Rabbiner und arbeitete einige Jahre in England und Australien. Er war einer der Gründer der Australian Democrats (einer Zentrumspartei) und der Bewegung für Multikulturalismus[4] in Australien. Das Ziel war es, aus den Einwanderern der ganzen Welt eine Nation zu gründen. Die Bewegung war so erfolgreich, dass die Idee nach fünf Jahren zur Politik in Australien gemacht wurde. Uri bekam eine Stelle im neu gegründeten Ministerium „Multicultural Affairs Queensland[5]“ und gab dafür sein Rabbinat auf. Trotzdem half er jüdischen Gemeinden freiwillig weiter als Rabbiner aus. 1990 wurde er dann sogar Generaldirektor des Ministeriums im Lande Queensland. Dieser Tätigkeit ging er bis zur Pension nach und zog dann zusammen mit seiner Frau Geraldine vor 15 Jahren zurück nach Israel. Heute ist Uri Themal Mitglied einer der wenigen reformierten jüdischen Gemeinden in Kiryat Tivon. Politisch war Uri schon immer aktiv und interessiert, wenn auch nicht immer parteipolitisch, wie er sagt. Dennoch hat er schon eine beeindruckende politische Karriere hinter sich oder hingelegt ? und sogar eine Auszeichnung von der Queen verliehen bekommen. Die Order of Australia[6] hat Uri für ein Programm zur Aufnahme von Flüchtlingen verliehen bekommen, das er neben seiner Arbeit im Ministerium als Freiwilliger erarbeitet hat. Gleichzeitig hat er einen multikulturellen Rundfunk in Australien aufgebaut und wurde für diese Engagement geehrt.

In der israelischen Partei Yesh Atid ist Uri schon seit der Gründung vor zwölf Jahren aktiv. Es ist eine Zentrumspartei und ihr Name bedeutet Hoffnung. Am Tag der Wahl ist Uri mit seinem geschmückten Auto herumgefahren, um Werbung zu machen und Wähler der Partei zum Wahllokal zufahren, wenn diese beispielsweise nicht mehr gut zu Fuß unterwegs sind. So viel erst einmal zu Uri – jetzt zu dem Land, in dem er lebt:

[3] Das Wort "Holocaust" stammt von dem griechischen Wort "holókaustus" und bedeutet "völlig verbrannt". Der Begriff wird verwendet, wenn von der systematischen Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen während des Nationalsozialismus gesprochen wird. Im Hebräischen spricht man von "Schoah", was auch "große Katastrophe" bedeutet. Toyka-Seid, C. G. S. (2022, 17. November). Holocaust / Schoa. bpb.de. https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-junge-politik-lexikon/320492/holocaust-schoa/ [4] Bildung, B. F. P. (2021, 8. Oktober). Multikulturalismus. bpb.de. https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/17871/multikulturalismus/ [5] Strategic Communication and Engagement (51197);Strategy and Partnerships (50753). (2022, 15. November). Multicultural Affairs. Department of Children, Youth Justice and Multicultural Affairs. https://www.cyjma.qld.gov.au/multicultural-affairs [6] Die Auszeichnung ist vergleichbar mit dem Bundesverdienstkreuz.



Aufbau des politischen Systems

Der Staat Israel ist vergleichsweise jung und wurde 1948 als parlamentarische und repräsentative Demokratie gegründet. Die vorherrschende Gewaltenteilung wird durch die Regierung in der Exekutive und die Knesset[7] in der Legislative, sowie dem Obersten Gericht in Jerusalem als Judikative sichergestellt. Der Staatspräsident (נשיא ישראל) wird in geheimer Wahl durch Vertreter der Knesset mit absoluter Mehrheit gewählt und vertritt formelle und repräsentative Aufgaben. Außerdem gibt es einen Staatskontrolleur[8]. Die bisherige Koalition ist von rechts nach links sehr breit aufgestellt. Ministerpräsident Jair Lapid und Koalitionspartner Naftali Bennet bilden mit ihren Parteien Yesh Atid („es gibt eine Zukunft“ - liberale Zentrumspartei) und Jamina („nach rechts“) zusammen der linken Partei Meretz und erstmals auch einer arabischen Partei die bisherige Regierung. Ziel war es, eine weitere Amtszeit Netanjahus zu verhindern und so schickten sie vergangenes Jahr die Likud-Partei erstmals seit 2009 in die Opposition. Allerdings war das breite Bündnis anscheinend doch inhaltlich zu weit voneinander entfernt. Letztlich zerbrach die Koalition Ende Juni um die Frage einer Verlängerung eines Gesetzes, dass israelische Siedler im Westjordanland dem israelischen Zivilrecht untersteht[9]. Die Auflösung der Knesset läutete die neue Stunde für den ehemaligen Premierminister Benjamin Netanjahu ein.

[7] Knesset bedeutet so viel wie Versammlung und ist das Einkammer-Parlament des Staates Israel. Die Knesset - הכנסת. (o. D.). Botschaft des Staates Israel in Berlin. Abgerufen am 7. Dezember 2022, von https://embassies.gov.il/berlin/AboutIsrael/politicalSystem/Pages/Knesset.aspx [8] Uri beschreibt ihn als „Ombudsmann. Eine Art „Mini-Oberstes Haus“, wie der Bundesrat“ [9] Münch, P. (2022, 22. Juni). Israel steuert auf vorgezogene Neuwahl zu. Süddeutsche.de. https://www.sueddeutsche.de/politik/israel-neuwahlen-regierungskrise-1.5606563



Phänomen Bibi

Benjamin Netanjahu, in Israel auch unter dem Spitznamen „Bibi“ bekannt, ist aktuell eine der polarisierendsten Personen des Landes. An seiner Person teilen sich die Wählerinnen und Wähler in zwei Lager: Pro- und Anti-Netanjahu. Der 73-Jährige spricht perfekt Englisch, da er als Kind in Amerika gelebt hat. Durch seine zwölf Jahre Regierungserfahrung hat er gute Kontakte zu Russland und den USA. Er ist Vorsitzender der rechten Likud Partei und zugleich läuft gegen ihn aktuell ein Korruptionsverfahren in drei Fällen. Seine politischen Gegner schließen aufgrund dessen eine Zusammenarbeit mit ihm aus. Ihr Motto: „Wer korrupt ist, hat nichts in der Regierung verloren.“ Ohne Bibi könnten sich einige der Parteien eine Zusammenarbeit durchaus vorstellen. Netanjahu wird eine Koalition mit der ultrarechten Partei HaTzionut Ha Datit („Der Religiöse Zionismus“ – Spitzenkandidat: Bezalel Smotrich) der extrem-rechten Partei Otzma Yehudit (“Jüdische Macht" – Spitzenkandidat: Itamar Ben-Gvir) sowie ultraorthodoxen Parteien eingehen[10].

[10] Ben-Gvir und Smotrich haben beide ihre eigenen Parteien. Vor der Wahl haben sie sich zusammengeschlossen und anschließend wieder getrennt. So haben beide den dritten Platz bei der Wahl belegt.



Beginn des Interviews

Meine ersten Fragen drehten sich um das bereits erläuterte politische System und den Wahlkampf. Im Vergleich zu Deutschland sind mir sehr wenige Plakate und Poster ausgefallen. Wenn gab es Banner, aber die zugepflasterten Straßenlaternen mit Plakaten in den verschiedensten Farben und Aufmachungen konnte ich hier nicht entdecken. Ich muss natürlich einräumen, dass Kiryat Tivon mit seinen ungefähr 18.000 Einwohnern nicht gerade Tel Aviv ist – doch selbst in Weddel hängen zur Wahlzeit mehr Wahlplakate als in Tivon. Uri erklärte mir, dass sie den Wahlkampf hier eher langsam angehen lassen und erst in der letzten Woche so richtig starten, vor allem in den Medien. Was es nicht gibt, sind die „Kanzlerduelle“, welche wir aus den öffentlich-rechtlichen Talkshows in Deutschland kennen. In israelischen Talk-Shows werden die Kandidaten einzeln eingeladen. Die Stimmung ist aber recht angespannt, da die Moderator:innen den Kandidaten immer wieder ins Wort fallen und so hitzige Debatten entstehen. Auch gab es bei dieser Wahl keine öffentlichen Versammlungen oder Demos, wie es bei den anderen Wahlen am Wochenende üblich war, berichtet Uri. „Die Leute sind auch einfach wahlmüde“, erklärt er mir. Das gilt aber nicht für alle. Vor der Wahl fand jeden Schabbat auf den Autobahnbrücken Wahlkampf statt. Politisch aktive Israelis protestierten meistens[11] gegen Netanjahu und auch gegen die extrem rechten Politiker Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir. Letzteren stuft Uri als unheimlich gefährlich ein, da er deutlich aktiver als Smotrich ist. Ben-Gvir war in den letzten Monaten der Star in den Medien, was sich bei der Wahl auch abzeichnete. Er gilt als neues Phänomen, Ben-Gvir ist ultrarechts und nicht nur in Talkshows, sondern auch auf TikTok unterwegs[12]. Vor allem viele junge und Erstwähler haben ihm zu den 10,84 % der Stimmen verholfen[13]. Ich frage Uri nach einer Erklärung dieses Phänomens. Ben-Gvir nehme durch sein starkes Charisma und seine Ausstrahlung Einfluss auf die Leute, erklärt Uri.

[11] Tagesschau. (2022, 2. November). Parlamentswahl in Israel: Wahlkampf auf Brücken. tagesschau.de. https://www.tagesschau.de/ausland/asien/israel-wahl-157.html [12] Link zum TikTok Account von Itamar Ben-Gvir: https://www.tiktok.com/@itamar_ben_gvir [13] Israel-Wahl - Ein unverblümt Rechter begeistert die Jugend. (2022, 2. November). ARD Audiothek. https://www.ardaudiothek.de/episode/fazit-deutschlandfunk-kultur/israel-wahl-ein-unverbluemt-rechter-begeistert-die-jugend/deutschlandradio/12064243/


Die Wahlbeteiligung lag bei 70,63 %, was keinen großen Unterschied zu den vorherigen Wahlen aufweist. Der Wert der Wahlbeteiligung liegt sogar über dem Durchschnitt (69 %) der OECD-Länder[14]. Doch es leben über 10 % der Israelis im Ausland und reisen nicht extra zur Wahl an[15]. Auch unter den arabischen Israelis ist die Wahlbeteiligung sehr gering. Uri erzählt mir, dass er von einer Art Dorfversammlung in Hilf – dem arabischen Ort, in dem ich arbeite – gehört hat. Sie haben sich getroffen und beschlossen, dass sie alle nicht zu Wahl gehen wollen. Wieder ein Punkt, den ich nicht nachvollziehen kann. Doch Uri zitiert den ehemaligen Außenminister Abba Eban, „Die Araber verpassen keine Gelegenheit, eine Gelegenheit zu verpassen.“ Die arabischen Israelis sind unzufrieden mit ihren Parteien. Denn die meisten arabischen Parteien sehen sich als Palästinenser und vertreten nicht die Araber hier vor Ort. Die Ausnahme ist Ra‘am, die arabische Partei in der aktuellen Koalition. Sonst befinden sich die arabischen Parteien nur in der Opposition, Netanjahu würde niemals eine Koalition mit ihnen eingehen, erläutert mir Uri. Aber in den vergangenen fünf Jahren ging es häufig um etwas anderes – darum, für oder gegen Netanjahu zu sein. Gegen Netanjahu sind die Parteien, welche sich von links bis zur Mitte einordnen lassen. Ihr Grundsatz ist wie erwähnt: Wer unter Anklage steht, sollte nicht in der Regierung sein. Uri unterstützt diesen Grundsatz. Weitere Themen des Wahlkampfs sind zum einen Sicherheit und wer diese garantieren kann. Israel ist anders als Deutschland größtenteils von Feinden umgeben[16]. Es ist nicht einfach, sogar lebensbedrohlich, eine Grenze zu einem der Nachbarländer einfach zu überschreiten. Das andere Thema ist immer die Wirtschaft. Vor allem der Lebensstandard, die Preislage der Verbrauchsgüter und die Mieten spielen eine wichtige Rolle. Hier ist alles deutlich teurer als in Deutschland. Der Lebenshaltungskosten-Index (ohne Miete)[17] liegt in Israel bei 78,65 %, der Wert für Deutschland beträgt 61,72 %. Es ist sehr schwierig, für die Leute bei diesen hohen Preisen mitzuhalten, vor allem da die Inflationsrate auch hier schnell steigt[18]. Auch schon vor dem Angriff auf die Ukraine waren die Lebenshaltungskosten deutlich höher als in Deutschland.

[14] OECD Better Life Index. (o. D.). https://www.oecdbetterlifeindex.org/de/topics/civic-engagement-de/ [15] Naujoks, A. C. (2022, 1. November). Israel in der Wahl-Dauerschleife. Israelnetz. https://www.israelnetz.com/israel-in-der-wahl-dauerschleife/ [16] Außer nach Ägypten, Jordanien und ferner die Abkommen in der Golfregion ist es für Israelis nicht einfach, in die Nachbarländer zu reisen. Am Tag der Wahl haben wir mit Osnats (Erzieherin in der Krippe) Familie einen Ausflug gemacht. Wir sind in den Norden bis an die Grenze zum Libanon gefahren und haben die Mauer mit Stacheldraht und die Wachtürme mit den Soldaten gesehen. Emma, Osnats 18-jährige Tochter meinte, dass es ja mega cool ist in Deutschland zu leben, da man einfach in den Zug steigen und direkt bis Paris fahren kann. Oder nach England oder Prag oder wo immer man gerade hinmöchte. In dem Moment ist mir das Privileg, welches wir mit der EU und unseren Pässen haben wieder richtig bewusst geworden. [17] Der Index wird anhand der Lebenshaltungskosten der Stadt New York City gemessen, dabei hat NYC den Wert 100 %. In Israel ist es also im Durchschnitt 21,35 % billiger als in New York zu leben. Lebenshaltungskosten in Israel. (o. D.). https://de.numbeo.com/lebenshaltungskosten/land/Israel

[18] Im September lag die Inflationsrate im Land, im Vergleich zum Vorjahresmonat, bei 4,6 Prozent. Bildung, B. F. P. (2022, 25. November). Rechte Mehrheit bei Wahl in Israel. bpb.de. https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/514808/rechte-mehrheit-bei-wahl-in-israel/



Nur Bibi

Haus eines Bibi-Fans

Netanjahus Wähler trauen aber nur ihm zu, diese Probleme zu lösen. „Rak Bibi“ („Nur Bibi“) ist ihr Slogan, den die Netanjahu-Anhänger Uri immer wieder entgegengerufen haben, als er oft beim Wahlkampf für die Opposition oben auf den Brücken stand. Nur Bibi könne die Sicherheit gewährleisten, nur Bibi könne vor der Uno sprechen, nur Bibi habe gute Auslandskontakte, da er perfekt Englisch sprechen kann. Doch andere könnten das auch, sagt Uri. Lapid hat genau so viel Applaus bekommen, als er vor den Vereinten Nationen gesprochen hat und die Armee wird momentan von einem Verteidigungsminister geführt, der ein ehemaliger Generalstabschef ist. Es gibt viele weitere Beispiele, die zeigen, dass es eben nicht nur Bibi könne, erzählt mir Uri – und sagt: „Doch gegen Propaganda ist schwer anzukommen.“

Im Gespräch beschreibt Uri konkrete Beispiele politischer Vorhaben Netanjahus: Er will den Gerichtshof schwächen, welcher eine Revisionsrolle (prüfende Funktion) hat. Der Hauptzweck besteht darin, den Einfluss des obersten Gerichts zu reduzieren. Es gibt nämlich kein zweites Haus wie den Bundesrat, da die Knesset alleinig die entscheidende Rolle im politischen System spielt. In den Jahren, in denen Netanjahu an der Macht war, hat die Knesset oft Gesetzte verabschiedet, die Meschen- und Frauenrechten zu widersprechen schienen. Unter anderem die Oppositionsparteien konnten dann zum Obersten Gericht gehen und prüfen lassen, ob das Gesetz mit den Grundgesetzen vereinbar sei. So konnten einige Gesetze, die Netanjahu in den letzten Jahren durchbringen wollte, verhindert werden. „Sie wollen unbedingt ihre Gesetzte durchbringen“, sagt Uri im Bezug auf die bevorstehenden Reformen. Eine einfache Mehrheit von 61 Stimmen, soll in Zukunft entscheiden und somit die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs nichtig machen. Dies ist keine einfache Befürchtung, es steht schon zur Debatte[19]. „Sie haben schon gesagt, dass sie es machen wollen“, meint Uri. Und sie würden es auch durchsetzen, da die Opposition einfach zu schwach sei. Nur eine interne Rebellion könne das Vorhaben noch kippen. Die zukünftige Regierung wolle also an der Demokratie feilen. Die Aussage, dass ein solches Vorhaben derart konkret Teil der politischen Debatte ist, bereitet mir ein mulmiges Gefühl.

[19] deutschlandfunk.de. (o. D.). Israels Justiz als Verhandlungsmasse. Deutschlandfunk. https://www.deutschlandfunk.de/israels-justiz-als-verhandlungsmasse-dlf-17dbb9fe-100.html



Westjordanland: Siedlungen oder Annexion?

Wir kommen auf die Pläne im Westjordanland zu sprechen. Uri sagt: „Wir befürchten, dass sie mehr Siedlungen im Westjordanland schaffen, vielleicht sogar Teile annektieren wollen.“ Netanjahu verspricht immer wieder Sicherheit. Vor einigen Jahren hat er sich für die Zwei-Staatenlösung ausgesprochen, er glaubt jedoch nicht daran, sagt Uri. „Er hat festgestellt, dass es keinen Friedenspartner auf der anderen Seite gibt“, erklärt Uri und sagt, dass er in diesem Punkt mit Netanjahu übereinstimme. Beide sehen keinen Friedenspartner in Palästina, doch für Uri bedeutet dies, dass eine andere Lösung gefunden werden muss. Die Lösung von Ben-Gvir ist Annexion. Uri erklärt: „Netanjahu wird dazu vielleicht gezwungen, da Ben-Gvir sonst wahrscheinlich damit droht, die Koalition zu sprengen.“



Versprechen für Soldat:innen

Ich habe gehört, dass die Einsatzregeln für Soldaten geändert werden sollen und es so einfacher wird auf Feinde zu schießen. Die „rules of engagement“[20], sollen tatsächlich vereinfacht werden[21]. Aktuell gibt es eine bestimmte Reihenfolge, welche beachtet werden muss, bevor die Soldaten auf Menschen schießen dürfen. Uri erklärt mir, dass Ben-Gvir damit warb, dass es nun „besser für Soldaten“ wird, doch in Wirklichkeit wird es schlechter für alle anderen. „Sie sagen zwar, dass sie die Situation für Soldaten verbessern wollen, doch als sie in der Opposition waren und Lapid bessere Bezahlung erreichen wollte und sich um die Soldaten gekümmert hat, hat Netanjahu dagegen gestimmt. Sie kümmern sich also nicht um die Soldaten. Sie wollen vor allem mehr Einfluss im Militär.“ Ab 18 Jahren müssen die Israelis zum Militär, es besteht eine Wehrpflicht für Männer und Frauen[22]. Das könnte den hohen Anteil der Erstwähler erklären, die Ben-Gvir gewählt haben. Doch Militär heißt aber nicht automatisch Front, es gibt viele verschiedene Jobs. „Es ist einfacher für mich, meine Enkelin zum Militär zu schicken, als in ein Auslandsjahr“, hat neulich eine Großmutter aus dem Kindergarten gesagt, bei der wir zum Pizza essen eingeladen waren. Zur Zahal (der Armee) zu gehen ist für die Menschen hier ein fester Bestandteil ihres Lebensplans. Nach dem Kindergarten gehen sie zur Schule und anschließend zur Armee. „Ich will nicht, dass unsere Jugend trainiert wird, jemanden zu erschießen, wenn man bedroht wird“, sagt Uri. Durch diese Änderungen wird das Militär politisiert, momentan sind Militär und Politik durch eigene Grundsätze und Regeln voneinander getrennt. Auch fordern sie die Todesstrafe für Terroristen, Uri hat keine Sympathie für Terroristen, aber trotzdem ist er gegen die Einführung einer Todesstrafe. „Wir fürchten uns davor und wollen so eine Regierung nicht.“ Wenn die Todesstrafe einmal im Gesetzt verankert ist, wird es später leichter werden, diese auf Mörder oder andere Straftaten auszuweiten, befürchtet Uri.

[20] Gemeint sind hier die Einsatzregeln des israelischen Militärs, welche für Soldat:innen gelten. In ihnen ist festgelegt, wann welche militärische Gewalt zum Einsatz kommen darf. Diese Regeln sind in Fällen von Selbstverteidigung und Notwehr besonders wichtig. [21] IDF rules of engagement. (o. D.). The Times of Israel. https://www.timesofisrael.com/topic/idf-rules-of-engagement/ [22] Timm, A. (2022, 25. Januar). Zahal - die Armee. bpb.de. https://www.bpb.de/themen/naher-mittlerer-osten/israel/45032/zahal-die-armee/



Ultraorthodoxer Einfluss

Uri und ich kommen auf einen anderen Teil der künftigen? Koalition, der Regierung, die Uri so fürchtet, zu sprechen. Die Ultraorthodoxen, deren Ziel es ist, eine Theokratie[23] zu errichten. „Ich will nicht, dass wir wie der Iran oder Saudi-Arabien werden“, sagt der Rabbiner. Uri zählt mir einige Ziele der Orthodoxen auf. Am Schabbat[24] sollen weder Autos noch öffentliche Verkehrsmittel fahren. Alle Geschäfte und Restaurants sollen geschlossen sein. Momentan haben zwar viele jüdische Geschäfte am Schabbat geschlossen und die Busse fahren selten und unregelmäßig, aber die arabischen Shops, Städte und Viertel haben noch geöffnet. Die Ultraorthodoxen sind gegen die Entweihung des Schabbats, erklärt Uri. „Momentan herrscht in Israel das Verständnis, dass alle das machen, was sie für richtig halten. Die Orthodoxen allerdings wollen religiöse Gesetzte für die ganze Nation“, befürchtet Uri.

[23] In einem theokratischen Staat rechtfertigen die Machthaber ihre Herrschaft dadurch, dass sie sich auf einen göttlichen Willen berufen. Die Herrscher sind nicht nur die politischen, sondern auch die religiösen Führer in diesem Staat. Das Recht und die Gesetze sind so, wie es die Religion vorschreibt oder wie die Herrscher die Anweisungen der Religion auslegen. Toyka-Seid, C. S. G. /. (2022, 17. November). Theokratie. bpb.de. https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-junge-politik-lexikon/321242/theokratie/ [24] Der Schabbat geht jede Woche von Freitag bis Samstag, von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang.



Frauen in der Gesellschaft

Mir fällt eine Geschichte ein, die Sophie – eine andere Volontärin – erlebt hat: Als sie in einem sehr orthodoxen Viertel in den Bus eingestiegen ist und sich hingesetzt hat, wurde ihr von vielen Männern gesagt, dass sie sich als Frau gefälligst hinten in den Bus setzen solle. Als ich Uri die Geschichte erzähle, sagt er, dass Situationen wie diese eine Fehlinterpretation der Tora sind und man aus ihr nicht lesen könne, was die Orthodoxen von Frauen verlangen. Die Frauenrechte werden sich also verschlechtern. Es wird schwieriger für Frauen in Städten, wo Orthodoxe dominieren, sagt Uri – und weiter: in der Öffentlichkeit spielten Männer und Frauen nämlich getrennte Rollen. Auch haben die religiösen Parteien keine weiblichen Abgeordneten. In der kommenden Regierung werden fünf Frauen Ministerämter bekleiden, wenn Uri sich recht erinnertd[25]. Die Quote der aktuellen Regierung liegt bei 50/50, versichert mir Uri, der die Partei des noch amtierenden Premierministers Lapid unterstützt.

[25] Laut der Neuen Züricher Zeitung sollen von den 64 Sitzen neun Sitze von Frauen besetzt werden. Roth, J. (2022, 21. November). Israel: In Netanyahus Regierung werden kaum Frauen sitzen. Neue Zürcher Zeitung. https://www.nzz.ch/international/64-sitze-55-maenner-in-netanyahus-regierung-werden-frauen-nur-noch-eine-nebenrolle-spielen-ld.1712460?reduced=true



LGBTQ+

Als nächstes spreche, ich einen Punkt an, der mir zu Ohren gekommen ist und der mir so unmenschlich und irreal erscheint, dass ich wissen möchte, ob es wirklich stimmt. Es geht um die LGBTQ+-Community. Wie man sich denken kann, sympathisieren weder die Rechten noch die Orthodoxen mit diesem Teil der Gesellschaft. Uri gibt an, dass sie auf jeden Fall deren Rechte ändern wollen. Öffentliche Demos werden sie wahrscheinlich verbieten und Treffpunkte der Community wie Bars und Restaurants schließen, vermutet er. Ich hake nach, da ich auch von Umerziehung gehört habe. Uri bejaht, es soll eine Konversionstherapie eingeführt werden. Was das genau ist, weiß er nicht, doch als er googelt, findet einige Praktiken: Training sozialer Fähigkeiten, psychoanalytische Therapie und spirituelle Interventionen, chemische Kastration mit Hormonbehandlung, die Anwendung von Elektroschocks an den Händen und/oder Genitalien. Was und wie genau diese „Therapie“ aussehen soll, weiß Uri nicht. Doch was ich gehört habe, bestätigt sich, ein Shinschinim[26] aus dem Kfar hat erzählt, dass sie bereits in den Schulen queere Leute zu diesen Therapien schicken wollen und dass nicht nur mit Gesprächstherapie, sondern auch mit Medikamenten gearbeitet werden soll. Ob es wirklich so weit kommt, weiß noch niemand, doch hoffen wir, dass dieser Fall nicht eintritt. Zumal erst dieses Jahr (2022) die „conversion therapy by medical professionals“ vom Minister Horowitz (Health Ministry) verboten wurde. Uri vermutet, dass vielleicht eine Art Paragraf 175[27] kommen wird, wie wir ihn in Deutschland hatten. Und das alles basierend auf der Tora, da sie Homosexualität verbietet[28]. Die Noam Partei, Mitglied der neuen Koalition, hat angekündigt externe Programme (welche Themen wie LGBTQ+ behandeln) an Schulen verbieten zulassen. Daraufhin haben 50 Kommunalregierungen erwidert, dass sie sich nicht in ihre Bildungspolitik hereinreden lassen[29]. Das Thema führt also bereits zum regen Diskurs in der Öffentlichkeit.

[26] Shinschinim sind israelische Jugendliche, die vor ihrer Zeit in der Armee ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren. In Kfar Tikva arbeiten und leben zurzeit zwölf Schinschinim und zehn deutsche Volontäre. [27] § 175 kriminalisierte über 123 Jahre Homosexualität und legitimierte staatliche Verfolgung von schwulen und bisexuellen Männern. Seit dem 11. Juni 1994 gibt es in Deutschland keine strafrechtliche Sondervorschrift zur Homosexualität mehr. Paragraph 175 StGB: Verbot von Homosexualität in Deutschland. (o. D.). https://www.lsvd.de/de/ct/1022-Paragraph-175-StGB-Verbot-von-Homosexualitaet-in-Deutschland [28] Im Buch Levitikus heißt es sogar: Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Gräueltat begangen; beide werden mit dem Tode bestraft. Homosexualität im Judentum. (o. D.). Religionen Entdecken. https://www.religionen-entdecken.de/lexikon/h/homosexualitaet-im-judentum Im reformierten Judentum ist Homosexualität allerdings erlaubt. Gleichgeschlechtliche Paare werden getraut und es gibt auch homosexuelle Rabbiner. Gibt es schwule Juden? (o. D.). Jüdisches Museum Berlin. https://www.jmberlin.de/frage-des-monats-gibt-es-schwule-juden [29] Maltz, J. (2022, 5. Dezember). LGBT groups begin fight against homophobes in new Israeli government. Haaretz.com. https://www.haaretz.com/israel-news/2022-12-05/ty-article/.premium/lgbt-groups-begin-fight-against-homophobes-in-new-israeli-government/00000184-e18a-d991-ad84-e9dab7cc0000




Was glaubst du wird kommen?

Alle Themen, die mir unter den Nägeln brannten, habe ich nun angesprochen. Ich frage Uri trotzdem noch: Was glaubst du, wird kommen? Er zählt einen Punkt nach dem anderen auf:

Zunächst einmal werden religiöse Gesetze radikaler umgesetzt und Gesetze der aktuellen Regierung werden annulliert, vermutet Uri. Zum Beispiel die Überwachung vom Koscheren (hebräisch כַּשְרוּת Kaschrut)[30] wird stärker zentralisiert – anders unter Lapid: da wurde die Aufsicht liberalisiert, sagt Uri. Das orthodoxe Rabbinat bekommt mehr Einfluss auf das Leben von Bürgern, führt Uri weiter aus. Er erwartet Provokationen Ben-Gvirs, vor denen er sich sehr fürchtet. Damit verbunden der Ausbau der Siedlungen im Westjordanland und die mögliche Annexion. Uri berichtet, dass der König von Jordanien in den Nachrichten vor der Änderung des Status Quo am Tempelberg gewarnt hat[31]. Es wird ernsthafte Konsequenzen haben. Diese Konsequenzen könnten formelle Folgen, wie dem Abbrechen der diplomatischen Beziehungen Jordaniens, sein.

[30] Man darf das Lamm nicht in der Milch seiner Mutter kochen, dieser Satz ist mir seid der 6. Klasse in den Kopf gebrannt und erklärt nur einen kleinen Teil der komplexen jüdischen Speisevorschriften, aber eine der wichtigsten Regeln. Deswegen ist hier auch alles oft doppelt in Plastik eigepackt. Die stark Religiösen haben sogar zwei Kühlschränke, einen für Fleisch- und einer für Milchprodukte. [31] m., R. (2022, 7. November). Jordanien warnt vor Veränderungen am Tempelberg. Neues Ruhrwort. Abgerufen am 7. Dezember 2022, von https://neuesruhrwort.de/2022/11/07/jordanien-warnt-vor-veraenderungen-am-tempelberg/


Uri vermutet außerdem, dass gefährliche populistische Propaganda zu Terroranschlägen und Massenkrawallen führen wird. „Wir haben es [gemeint sind die Terroranschläge - Anm. d. Red.] auch schon ohne Provokation, doch es wird noch schlimmer werden“, sagt mein Interviewpartner. Seit dem Sechstagekrieg verwaltet die „Waqf“[32] die islamischen heiligen Stätten[33]. Uri erwartet auch, dass sich weniger um die arabische Bevölkerung gekümmert wird, welche gut 20 % der Bevölkerung ausmacht. Die aktuelle Regierung half die Kriminalität zwischen Familiengruppen („Clans“) innerhalb der arabischen Städte zu verringern. „Die Situation der Araber im Land verschlimmert sich[34]“, befürchtet Uri. Man kann nicht abschätzten, was passiert. „Unsere Befürchtungen basieren auf Aussagen während des Wahlkampfs“. Außerdem sagt Uri, dass Teile der kommenden Regierung jüdische Faschisten seien. Jüdischer Faschismus sei die Einstellung der kommenden Regierung und das stehe gegen die Unabhängigkeitserklärung Israels. Für mich sieht die Zukunft nach Uris Erzählungen düster aus.

[32] What is Waqf? (o. D.). International WAQF FUND. Abgerufen am 7. Dezember 2022, von https://waqf.org/what-is-waqf/ [33] Der Tempelberg liegt im Zentrum der konkurrierenden nationalen Ansprüche Israels und der Palästinenser, es kam dort bereits öfter zu Gewaltausbrüchen. Als Israel 1967 Ostjerusalem und das Westjordanland von den jordanischen Machthabern eroberte, dehnte es seine Souveränität auf den Berg und den Rest der Altstadt aus, gestattete aber dem Waqf (muslimische Stiftung), die heiligen Stätten weiterhin zu verwalten, und legte fest, dass Juden diese zwar besuchen, aber nicht dort beten dürfen. Fire on the Mount? How the new government might shift policy at flashpoint holy site. (o. D.). The Times of Israel. https://www.timesofisrael.com/fire-on-the-mount-how-the-new-government-might-shift-policy-at-flashpoint-holy-site/ [34] Ben-Gvir hatte sich in der Vergangenheit unter anderem für die ethnische Säuberung Israels von den Arabern ausgesprochen und für eine Rassentrennung plädiert. Diese Aussagen hat er mittlerweile zurückgenommen. israelnetz. (2022, 14. November). Ben-Gvir distanziert sich von Kahane-Forderungen – und wird ausgebuht. Israelnetz. https://www.israelnetz.com/ben-gvir-distanziert-sich-von-kahane-forderungen-und-wird-ausgebuht/



Auswandern – für Uri keine Option

Uri und Geraldine auf einer Brücke beim Protestieren

Ich frage ihn, wie er sich damit fühlt und woher er die Kraft nimmt, weiterzumachen und nicht aufzugeben. Uri erzählt mir von den Nachrichten, die nach den Wahlergebnissen in der WhatsApp-Gruppe der Parteiführung in seinem Handy auftauchten. Einige schrieben von ihren Auswanderungsplänen, aber für Uri ist das keine Lösung. Er will hierbleiben und kämpfen. Dagegen, dass die Regierung ihre Macht missbraucht und der Staat in die falsche Richtung rutscht. Er will eine gesunde Opposition und stärkere und bessere Alternativen bei der nächsten Wahl anbieten. Für ihn ist die Wahlniederlage eine große Enttäuschung. Vor allem über die eigenen Fehler ärgert er sich. Diese auszuführen, erklärt er mir, würde zu weit führen, gemeint sind aber die Fehler, die seine Partei im Wahlkampf gemacht hat. Deshalb sei die Enttäuschung noch größer, weil die Niederlage teilweise die eigene Schuld sei. Doch das Feld dem Sieger zu überlassen, das sei zu einfach. Uri Themal macht sich Sorgen, dass die Qualitäten des Staates vernichtet werden, er will für die Qualitäten seines Landes kämpfen, sie erhalten, damit sie nicht vernichtet werden. Ich bewundere diese Einstellung. Vor allem, weil ich sehr gut nachvollziehen kann, wie frustrierend es ist, sich für Sachen einzusetzen, sein ganzes Herzblut in Projekte zu stecken und dann zu sehen, wie es anderen Menschen einfach egal ist und sie ihr Leben nicht ändern. Ich erzähle ihm, wie es mir in solchen Situationen geht und seine Antwort ist erschreckend: „Klar habe ich Angst, unheimliche Angst. Wahrscheinlich, da ich Shoah- Überlebender bin und das als Kind selber durchgemacht habe. Ich weiß, wie leicht es ist, dass ein Staat in Extremismus verfällt. Es ist schwer, da wieder herauszukommen. Ich will sie nicht mit Nazis vergleichen, doch Gvir und Smotrich sind jüdische Faschisten, sie können mich verklagen, wenn sie wollen.“ Diese Angst werde ich nie im Leben nachvollziehen können, doch seine Angst löst auch große Angst in mir aus. Sie zeigt mir wieder, wie privilegiert ich in meiner kleinen Braunschweig-Bubble bin. In der meine Freunde und auch die meisten Menschen, die an meiner Schule um mich waren, dieselben politischen Einstellungen und Weltverständnisse haben, in der es unmöglich erscheint, dass sich Nationalismus so stark ausbreitet. Und doch habe ich in den letzten Monaten öfter das Gefühl gehabt, dass vor allem in Europa ein deutlicher Rechtsruck durch die Gesellschaften dieser Welt geht. Etwas, dass sich meinem Verständnis absolut entzieht und mir so fremd und unmenschlich erscheint[35].


An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal herzlich bei Uri bedanken, dafür, dass er sich die Zeit genommen hat und mir ehrlich und offen über seine Gedanken und besonders seine Gefühle berichtet hat. Was die Zukunft bringt, weiß niemand, wir können nur hoffen, dass sie durch Menschen wie Uri Themal hoffnungsvoll vor uns liegt.

[35] Sophie von der Tann, Auslandskorrespondenten der ARD in Tel Aviv, versucht die Hintergründe des Rechtsrucks in Israel genauer zu erläutern. Ihre Einschätzungen der Situation helfen einige Warum-Fragen zu lösen. tagesschau. (2022, 2. November). Wahl in Israel: Sieg für Netanyahu zeichnet sich ab. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=TWOkybnnZow

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